zum Unterzeichnen: Offener Brief an die Bundesvorsitzenden und die Vorsitzenden der Bundestagsfraktion

Der Brief wurde am 9.3.2017 mit allen UnterzeichnerInnen (siehe Liste am Ende) versandt.

An die Bundesvorsitzenden und die Vorsitzenden der Bundestagsfraktion

Zur Kenntnis:

Bundestagsfraktion

Verschiedene Mailverteiler, etliche Kreis- und Ortsverbände

 

22.02.2017

 

Liebe Simone, lieber Cem, liebe Katrin, lieber Toni,

unsere Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nimmt den Komplex zunehmender Verarmung (nicht nur in Deutschland) deutlich wahr, UND gleichwertig ist für uns damit untrennbar verbunden ein Verantwortungsbewusstsein, das uns zu verfassungsgemäßem Umgang mit Flüchtenden und Asylbewerber*innen verpflichtet – durchaus ein Alleinstellungsmerkmal, unterscheidet es uns doch in seiner Umfassendheit und Durchdringung von anderen Parteien.

Jedoch beobachten wir nun mit zunehmender Sorge den Prozess der Schwerpunkt- und Themensetzung in unserer Partei in den letzten Wochen. Hier scheint sich verstärkt eine Diskrepanz zwischen den politischen Zielen einiger Verantwortlicher und den Wünschen eines großen Teils der Parteibasis zu entwickeln:

So sind auf der letzten BDK unserer Partei im November 2016 in Münster zentrale Punkte von der Parteibasis über die Delegierten in Form von Beschlüssen zwar mehrheitlich verabschiedet worden, die sich nun im Beschluss des Bundesvorstandes vom 10. Jan.2017 mit Eckpunkten für den Bundestagswahlkampf aber nicht wiederfinden!

( hier der Link zum Beschluss, pdf-datei : https://www.gruene.de/fileadmin/user_upload/Dokumente/Beschluesse_BuVo/20170110_Beschluss_Buvo_Eckpunkte_2017.pdf  )

 

Auch aufgrund der erschreckenden Auswüchse von Sanktionen und anderen menschenunwürdigen Maßnahmen gegen Empfänger*innen von ALG II (Hartz IV) war hierzu auf der letzten BDK mehrheitlich der

+++++ A N T R A G  auf sanktionsfreie Grundsicherung im SGB II +++++

beschlossen worden. Im zentralen Papier des Bundesvorstandes findet sich zu diesem viele Bürger*innen quälenden wie auch unpopulären Sanktionsthema nun jedoch nichts wieder!

Weiterhin hat die Mehrheit der parteilichen Basis die Notwendigkeit erkannt, politisch gegen die gewachsene soziale Not mit bereits über 12 Millionen Einkommensarmen und die gestiegene Ungleichverteilung von Vermögen in Deutschland vorzugehen, denn Ungleichheit ist sozialer Sprengstoff.

( vergl.: https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/vermoegensverteilung-so-ungleich-ist-deutschland-1.3169647  )

Deutschland ist zwar ein reiches Land, was aber nichts über die Situation der und des Einzelnen sagt: in Deutschland besitzen 36 Milliardäre so viel Vermögen wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung (ca. 280 Milliarden EUR, Stand Umrechnung EUR zu USD  30.01.17).

( vergl.: https://www.oxfam.de/ueber-uns/aktuelles/2017-01-16-8-maenner-besitzen-so-viel-aermere-haelfte-weltbevoelkerung  )

Und laut OECD, Revenue Statistics (2013) lagen die Steuereinnahmen aus Substanzsteuern (Grund-, Vermögens-, Schenkungs- und Erbschaftssteuer) 2011 in Deutschland bei niedrigen 0,9 Prozent des BIP (Bruttoinlandsprodukt), und damit nur bei der Hälfte des OECD-Schnitts von 1,8 Prozent. Andere ähnlich reiche Staaten lagen und liegen jedoch deutlich höher, z.B. Frankreich wie auch das Vereinigte Königreich.

( vergl.: https://www.oecd.org/berlin/presse/steuereinnahmen-2012.htm  )

 

Unsere Partei will die Umverteilung von unten nach oben in Deutschland stoppen und umkehren. Deshalb haben wir mehrheitlich auf der letzten BDK Instrumente zu einer gerechteren Verteilung wie

+++++ V E R M Ö G EN S-  und  E R B S C H A F T S-  STEUER +++++

beschlossen.

 

Und obwohl innerhalb unserer Partei, wie auch in sozialen Organisationen, in Gewerkschaften und in diversen NGOs ein breiter Konsens darüber besteht, dass sich dazu in Deutschland ein großer Bedarf an Veränderungen aufgestaut hat – den auch die Partei auf der letzten BDK mehrheitlich erkannt hat und deshalb oben benannte Instrumente beschlossen hat – finden sich diese wichtigen Punkte ebenfalls nicht unter den zentralen Positionen des Papiers vom Bundesvorstand!

Hier wird dafür eher nebulös auf der letzten von 4 Seiten von „mehr Steuergerechtigkeit schaffen, internationale Steuerhinterziehung bekämpfen und Steuerschlupflöcher stopfen“ gesprochen:

  • das sind selbstverständliche Punkte, die bei weitem nicht die Beschlusslage unserer Partei für ein Instrumentarium gegen Ungleichheit widerspiegeln,
  • das sind Punkte, die sich ähnlich quer durch fast alle politische Parteien wiederfinden.

Wir Unterzeichner*innen dieses offenen Briefes sind in großer Sorge, dass hier von einigen Verantwortlichen diese wichtigen Punkte ausgeklammert werden – stellen sie doch große Herausforderungen dar, gerade wenn einige nach der Bundestagswahl in Koalitionsverhandlungen gehen möchten mit der CDU/CSU und/oder mit der FDP.

Wir befürchten, dass zentrale Beschlüsse unserer letzten BDK in Münster zu drängenden sozialen Problemen nun nur aus Gründen der besseren Kompatibilität mit Koalitionen wie „Schwarz-Grün“ oder „Schwarz-Grün-Gelb“ nicht in die zentralen Punkte des Bundesvorstandes (immerhin 4 Seiten!) und damit nicht in den Bundestagswahlkampf aufgenommen werden, da eine Regierungsbeteiligung als solche einigen Verantwortlichen oberstes Ziel zu sein scheint.

Wir sehen wichtige Grundwerte unserer Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die sich auch immer als eine Partei zum Schutz der Schwächeren und sozial Ausgegrenzten verstanden hat, in Gefahr – zentrale Grundwerte sind keine politische Verhandlungsmasse für mögliche Koalitionsverhandlungen!

Politik zum Schutz von Minderheiten und Politik zur Verbesserung sozialer Verhältnisse gehen untrennbar Hand in Hand!

Darüber hinaus befürchten wir ein zunehmendes Verwässern unseres klaren politischen Profils, das uns womöglich eher Wählerstimmen kosten wird, als dass es uns weiterhilft: Möglicherweise wird aus vorauseilendem Gehorsam versucht, das Profil der Partei zu glätten, um die Partei für vielerlei Machtkonstellationen kompatibel zu gestalten – wobei aber zentrale Grundwerte der Partei auf der Strecke bleiben. Es sind etliche kritische Mitglieder des fortschrittlichen Flügels unserer Partei ausgetreten, und viele fortschrittliche Wählerstimmen würden uns so auch verloren gehen – das wäre der Preis für eine Beliebigkeit unserer Partei mit optionaler konservativer Öffnung, und das ist es aus unserer Sicht eindeutig NICHT wert.

Daher richten wir die eindringliche  B I T T E  an den Bundesvorstand, die Beschlüsse der BDK zu berücksichtigen. Insbesondere die beiden von unserer Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN über die Delegierten der letzten BDK in Münster eindeutig mehrheitlich getragenen Beschlüsse

  • für sanktionsfreie Grundsicherung im SGB II
  • für eine verfassungsfeste Besteuerung großer Vermögen und Erbschaften, um der ungleichen Vermögensverteilung entgegenzuwirken,

und deren eindeutige Aufnahme in den Katalog der zentralen politischen Themen für die nächste Bundestagswahl – und zwar so, wie es diesen zentralen politischen Inhalten gemäß der BDK-Beschlüsse zusteht.

Wir wissen sehr wohl zu würdigen, dass sich andere wichtige sozialpolitische Forderungen, wie beispielsweise die Kindergrundsicherung, die Bürgerversicherung oder die armutsfeste Garantierente im Beschluss des Bundesvorstandes wiederfinden. Die Besteuerung großer Vermögen und Erbschaften und die sanktionsfreie Grundsicherung im SGB II gehören aber ebenso zur Debatte um mehr soziale Gerechtigkeit als zentrale politische Forderungen dazu.  

Wir hoffen, dass die klare Positionslage der  PARTEI  zu mehr sozialer Gerechtigkeit und weniger Ungleichverteilung sich auch umgehend in den zentralen Themen des  BUNDESVORSTANDES  zur diesjährigen Bundestagswahl wiederfindet!

 

Herzliche Grüße aus der grünen Basis von:

Erstunterzeichner*innen:

Fritz Lothar Winkelhoch (KV Oberberg, Sprecher OV Gummersbach)

Gudrun Eickelberg ( KV Nordost-Bremen)

Thomas Hovestadt (KV Köln)

Bettina Soltau (KV Märkisch-Oderland)

Andrea Piro (KV Rhein-Sieg)

Dieter Flohr (KV Fürth-Land, Sprecher OV Cadolzburg)

Sigrid Pomaska (KV Hagen)

Leo Neydek (KV Rhein-Lahn, Sprecher KV Rhein-Lahn)

Monika Maier-Kuhn (KV Kurpfalz-Hardt)

Eyüp Odabasi (KV Herford)

Stephan Falk  (KV Bitburg/Prüm)

Kontakt: Fritz Lothar Winkelhoch – Email: fritzlothar@t-online.de

 

weitere UnterzeichnerInnen:

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2 Kommentare

  1. Dietmar Ferger

    Die Brisanz der Vermögensverteilung in Deutschland
    Die Verteilung von Vermögen verschiebt sich in Deutschland, aber auch weltweit, hin zu einer Konzentration der Vermögen auf wenige Prozent der Gesellschaft. Die privaten Vermögen in Deutschland betrugen 2011 über 10 Billionen €, davon entfielen jeweils über 3 Billionen € auf Nettogeldvermögen und Wohnimmobilien, parallel schrumpfte das staatliche Vermögen rechnerisch auf 11,5 Mr. €, mit den Reserven und Forderungen der Bundesbank auf 680 Mrd. €.
    Auf der unteren Seite der Vermögensverteilung in Deutschland steht eine Überschuldungsquote von 10,06% (2016, Creditreform) – 6,85 Mio. Personen über 18 Jahre sind überschuldet, überdurchschnittlich viele Menschen im Alter zwischen 25 und 54 Jahren, sehr wenige Rentner. Jede sechste Person in Deutschland gilt als armutsgefährdet, fast jeder dritte deutsche Haushalte ist mit einer unvorhergesehene Ausgabe von 1.000 € finanziell überfordert, 78.500 Personen haben 2015 einen Antrag auf Privatinsolvenz gestellt. Ursache der Überschuldung sind in weniger als 10% der Fälle eine „unwirtschaftliche Haushaltsführung“, d.h. ein übermäßiger Konsum, in den meisten Fällen sind es unvorhergesehene Ereignisse wie Arbeitslosigkeit, Scheidung, Erkrankung etc..
    Während die „untere“ Seite der Vermögensskala sehr gut dokumentiert ist, herrschen bei der „oberen“ Seite der Skala nebulöse Vermutungen vor, die Vermögen der „Superreichen“ sind nur ansatzweise erfasst.
    Wenn parallel die Einkommensentwicklung betrachtet wird, zeigt sich dass sich die Schere immer weiter auseinanderbewegen muss, denn von 2000 bis 2012 stiegen die Einkommen aus Unternehmen und Vermögen um 50%, die Arbeitnehmer-Einkommen nur um knapp 25%, was in etwa der Inflationsrate entspricht. Bei vermögensbezogenen Steuern ist Deutschland mit Tschechien und Österreich Schlusslicht in der OECD.
    Wenn die Entwicklung der Vermögensverteilung fortgeschrieben wird, ergibt sich in etwas folgendes Bild, bei dem zu beachten ist dass die Vermögen der Reichen (konservativ) geschätzt sind und deshalb in der Realität eher höher anzusetzen sind.
    Es ist also zu erwarten, dass 2021 die Hälfte der Bevölkerung „vermögenslos“ ist, während sich 70% des Vermögens bei 10% der Bevölkerung konzentriert. „Vermögenslos“ bedeutet vor allem, keinen „Puffer“ zu haben und sozusagen „von der Hand in den Mund“ und in dauerhafter Angst vor dem Verlust der materiellen Existenz (Wohnung, soziale Teilhabe …) zu leben und bei jedem Schicksalsschlag in Überschuldung, Wohnungslosigkeit und soziales Elend abzurutschen.
    Strategisch gibt es m.E. zwei Möglichkeiten, dieser Entwicklung zu begegnen: Einmal eine aktive Umverteilung mit Vermögensaufbauprogrammen für Arme, Erleichterungen bei der Abwicklung von Privatinsolvenzen, massive Aufstockung der Sozialhilfe- und ALG2-Sätze etc., zum anderen ein bedingungsloses Grundeinkommen in teilhabesichernder Höhe, das die Auswirkungen der Vermögensarmut beseitigt und auch armen Menschen eine dauerhafte und würdevolle Existenzsicherheit bietet. Die erste Alternative bedingt eine massive Ausweitung der Sozialbürokratie (mit entsprechenden Kosten), denn schon heute sind Schuldnerberatungsstellen und Sozialämter überfordert.
    Keine Lösung ist es, die Brisanz dieser Entwicklung zu ignorieren oder klein zu reden, denn wenn die Hälfte der Bevölkerung in einem an sich reichen Land in Existenzangst leben muss, ist die Gefahr der Radikalisierung und Ent-demokratisierung sehr hoch.
    Quellen und Informationen:
    Vierter Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2012
    Creditreform Schuldneratlas 2016
    Pressekonferenz „Überschuldung privater Personen 2015“ des statistischen Bundesamtes, Statement von Präsident Dieter Sarreither

  2. Thomas Hovestadt

    Lieber Dietmar,
    in vielen Punkten sind wir wohl sehr nahe bis deckungsgleich bzgl. der Konstatierung sozialer Schieflagen und zunehmender Ungleichverteilung.
    Bei den Instrumenten gibt es verschiedene Ansätze, ein bedingungsloses Grundeinkommen ist ein gerade in GRÜNEN Kreisen Auswege verheißenes Modell. Wie du und ich aus diversen gemeinsamen Diskussionen (auch bzgl. Abstimmung zum BGE in der Schweiz etc.) bereits wissen, kann man Reduzieren von Ungleichverteilung und mehr soziale Gerechtigkeit auch anders angehen als mit einem Arbeitgeber aus der Pflicht nehmenden, wenig effizienten und den Würdeaspekt von Beschäftigung eher gering berücksichtigendem BGE – diese Diskussion würde hier den Rahmen sprengen, und deshalb bedanke ich mich an dieser Stelle vor allem ganz deutlich für dein Engagement und deine Unterstützung unserer sozialpolitischen Anliegen unseres offenen Briefes.

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