Werner Hager, Aachen 2015
2015 findet eine Debatte über Prostitution statt. Vordergründig geht es um einen Bundestagsantrag der CDU, welcher das bestehende Modell paternalistisch weiterentwickeln will. Auch in einem angrenzenden Feld, dem Sexualstrafrecht, werden in diesem Jahr Anträge im Bundestag befasst. Als Reaktion auf die „Istanbul-Konvention“ wird hierbei im Sexualstrafrecht vom objektiven Gewaltbegriff abgewichen.
Das Verhältnis von Gewalt, Ökonomie und Sexualität ist insofern Thema dieses Jahr.
Was ist Prostitution:
Prostitution kann eng als individuelle Tätigkeit ausgelegt werden, hier ergibt sich die Frage, ob es sich um (Lohn-)Arbeit handelt oder ob hier mit der sexuellen Handlung auch direkt der Körper verkauft werde.
Zudem ist umstritten, ob die Prostitution und Menschenhandeln einen Zusammenhang bilden oder ob Menschenhandel schlicht Sklaverei darstellt und Prostitution ein hiervon unabhängiges Phänomen darstellt.
Die Alternativen:
Auf der grundlegenden Ebene stellt sich die Frage, ob es zukünftig Prostitution noch geben soll. Diese Frage ist nur sinnvoll zu beantworten, wenn vorher geklärt wurde, was genau Prostitution ist.
Allein die Beantwortung dieser Frage beschreibt den Weg noch nicht vollständig: Ist eine Entkriminalisierung bzw. Liberalisierung ein Schritt zur Abschaffung der Prostitution oder zu ihrer
Aufrechterhaltung? Kriminalisierung verdrängt Tätigkeit üblicherweise in Schwarzmärkte.
Und sollen überhaupt langfristig alle Verbindungen zwischen sexuellen und ökonomischen Beziehungen gekappt werden?
Die drei real existierenden Modelle:
Die Debatte über Prostitution wird schon immer zwischen Legalisierung und Verbot geführt. 2003 wählte die rot-grüne Regierung einen Weg, der Prostitution anderen Dienstleistungen gleichstellte, damit Rechtssicherheit für Prostituierte schuf. Dieser deutsche und niederländische Weg wird als „Liberalisierung“ bezeichnet. https://www.gesetze-im-internet.de/prostg/index.html
Die skandinavischen Staaten gingen einen anderen Weg: Sie entkriminalisierten Prostituierte, nicht jedoch Freier. Dieses Konzept wird als „nordisches Modell“ bezeichnet. https://de.wikipedia.org/wiki/Prostitution_in_Schweden
Frankreich verbleibt hingegen äußerst repressiv. https://de.wikipedia.org/wiki/Prostitution_in_Frankreich
Aktuelle Kampagnen:
Die Zeitschrift Emma positionierte sich im Oktober 2014 in einem „Appell gegen Prostitution“ gegen den Liberalisierungansatz: https://www.emma.de/thema/emma-appell-gegen-prostitution-111249
Eine Resolution des Europäischen Parlamentes äußert sich zugunsten des „nordischen Modelles“ und verurteilt die Situation in Deutschland und den Niederlanden.
https://www.europarl.europa.eu/news/de/news-room/content/20140221IPR36644/html/Die-Freier-bestrafen-nicht-die-Prostituierten-fordert-das-Parlament
Prostitution und die Linke:
Anders als für Liberale ist für Linke der Kapitalismus ein zu überwindender Zustand, nicht alleine etwas, dessen beste Form gefunden werden soll. Kapitalismus ist ein gewalttätiges System, in dem Herrschaft indirekt stattfindet, während für Liberale die Freiheit mit der Teilnahme an Märkten verwirklicht ist.
Insofern existiert schon seit den 90ern die Debatte, ob die „Liberalisierung“ ein Schritt zu mehr Freiheit oder eine Akzeptanz (oder sogar Affirmation) der bestehenden Verhältnisse ist.
„Monogamie und Prostitution sind zwar Gegensätze, aber untrennbare Gegensätze, Pole desselben Gesellschaftszustandes“ https://www.mlwerke.de/me/me21/me21_025.htm
Humanismus und Menschenwürde
Gegen diesen Zustand wird der Begriff der Menschenwürde ins Spiel gebracht. Dieser ist sehr eng mit dem frühen Humanismus verknüpft.
Prostitution sei ein Eingriff in die Menschenwürde, so die Position der Prostitutionsgegner. Menschenwürde versteht den gottesebenbildlichen Menschen, das Individuum als Einheit, welchesdurch eine derartige Gewaltbeziehung beschädigt würde.
Gegen diese Verwendung der Menschenwürde sprechen neuere humanistische Ansätze, die schon im frühen 19. Jahrhundert dieses noch recht sakrale Verständnis ablösen, aufhören sich mit dem abstrakten Menschen (im Singular) zu beschäftigen und beginnen, sich mit den konkreten lebenden Menschen zu beschäftigen. In dieser Lesart wirkt die Verwendung des Menschenwürdebegriffes als analytischer Rückfall hinter Marx.
https://audioarchiv.blogsport.de/index.php?s=prostitution
Freiheit, Liberalismus und Kommunitarismus
Das Wort Kommunitarismus ist vielen auch auf linker Seite nicht bekannt. Dies ist ein schwerwiegendes Versäumnis, denn die Betonung von Gemeinschaften und deren Bedeutung gegenüber dem liberalen Individuumskonzept wird weltweit als Gegenmittel zum Neoliberalismus behandelt.
In der US-Debatte wird die „Bindungslosigkeit“ des Menschen im Liberalismus für den Verfall des Gemeinwesens verantwortlich gemacht. Gemeinschaftsrechte müssten gegenüber individuellen Grundrechten gestärkt werden, Aufgaben sollten nicht vom Staat, sondern von Gemeinschaften, seien sie lokal oder familiär, durchgeführt werden.
In New Labour galt Kommunitarismus als Gegenmodell zu Blairs zweiter Phase des Neoliberalismus. Im restlichen Europa wird das skandinavische Modell hochgehalten.
In skandinavischen Gemeinwesen ist die Bereitschaft, Steuern zu zahlen, auch tatsächlich ausgeprägter. Die skandinavische Staatswerdung war allerdings auch eine deutlich andere als die des deutschen Obrigkeitstaates, vor dem das Individuum durch Grundrechte geschützt werden muss.
Prostitution, Crossover und ein politisches Projekt
Sich mit dem Thema Prostitution auseinanderzusetzen, berührt zwangsläufig grundlegende gesellschaftspolitische Fragen. Fragen, die sowieso beantwortet werden müssen, wenn noch einmal ein linkes Projekt entstehen soll. Was ist Arbeit? Will die Linke auf fortschrittliche Politik setzen? Welchen Freiheitsbegriff wird sie verwenden?
Realität und Digitalisierung
Neben diesen recht zeitlosen Fragen erreicht die Digitalisierung auch die Prostitution, wird die „Arbeitswelt“ vollständig umwandeln. Digitalisierung bietet sowohl die Möglichkeit zur vollständigen
Überwachung wie zur Anonymisierung. Wo wird Prostitution zukünftig stattfinden? Ist die Maklerfunktion
nicht vollständig automatisierbar? Wie werden zukünftig Bewertungsplattformen für Prostituierte und Freier aussehen?
Und wie lässt sich in diese Entwicklung eingreifen?
Appendix:
Paternalismus (von lat. Pater (Vater)): Innerhalb eines Herrschaftsverhältnisses wird der Beherrschte vormundschaftlich behandelt.
Affirmation (adj. affirmativ): Bejahung eines Herrschaftsverhältnisses. Gegenkonzept zur Kritik.
Monogamie(von gr. mono(allein), gamos(Ehe)) : exklusive (meist > > lebenslange) Fortpfanzungsgemeinschaft, z.B. in der Ehe. Mehrere gleichzeitige Gemeinschaften hingegen werden als Polygamie bezeichnet.
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