Wohnst du schon oder wirst du noch geschützt? Menschen mit Behinderung- von der Legende geschützter Räume

von Corinna Rüffer MdB und Katrin Langensiepen:

Ausgerechnet der Privatsender RTL brachte sie mit dem Format „Team-Wallraff“ vor einigen Monaten ans Licht: Gewalt an behinderten Menschen in Einrichtungen der „Behindertenhilfe“. Orte, an denen behinderte Menschen sicher sein sollten, waren nicht sicher. Die Wahrnehmung von Sondereinrichtungen für behinderte Menschen als Schutzräume hat Risse bekommen. Endlich!

Werkstätten für Menschen mit Behinderung Die Werkstätten für Menschen mit Behinderung wurden Anfang der 1960iger von Eltern behinderter Kinder ins Leben gerufen. Bis dahin gab es in der jungen BRD keinerlei Angebote für diese Personengruppe.

Wie schwierig die Situation für Familien mit behinderten Angehörigen war, kann man sich leicht klarmachen: Das nationalsozialistische Regime hat die Massentötung zu allererst an behinderten Menschen erprobt. Wenige von ihnen haben das überlebt. In den ersten Jahrzehnten nach 1945 haben sich viele Eltern für ihre behinderten Kinder geschämt. Somit war es damals ein Verdienst couragierter Personen, das sie Bildungs- und Arbeitsangebote für Ihre Kinder eingefordert und geschaffen haben. Immerhin garantierten die Werkstätten Beschäftigung und eine kleine Rente. Man bereitete die Kinder zwar nicht aufs Leben vor, aber auf die Rente.

Ignoranz des geltenden Rechts Noch immer ist die Meinung weit verbreitet, dass behinderte Menschen am besten in speziellen Einrichtungen leben und arbeiten sollen. Dort gehe es ihnen schließlich gut und für alles sei gesorgt. Morgens kommt der „Behindertentransport“ und bringt sie in die Förderschule, Tagesförderstätte oder Werkstatt und abends werden sie wieder zurück ins Wohnheim oder nach Hause gekarrt. Innerhalb der Einrichtung haben sie Arbeit und sind beschäftigt. Sie bekommen eine Tagestruktur und Betreuung.

Doch das, was vor 50 Jahren progressiv gewesen ist, entspricht schon längst nicht mehr den heutigen Ansprüchen. 2009 hat die Bundesrepublik die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert. Sie ist damit geltendes Recht geworden. Artikel 27 der Konvention beschreibt das Recht behinderter Menschen auf Arbeit auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit anderen. Davon kann beispielsweise bei einer monatlichen Entlohnung in Werkstätten in Höhe eines Taschengelds von durchschnittlich 185 Euro (im Osten deutlich darunter) kaum die Rede sein.

Werkstätten für Menschen mit Behinderung sind sogenannte Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation. Insgesamt sind dort mehr als 300 000 Menschen beschäftigt – Tendenz steigend. Von denen schafft nicht einmal ein (!) Prozent den Übergang auf den normalen Arbeitsmarkt. Ihrem gesetzlichen Auftrag werden sie damit eindeutig nicht gerecht. Woran liegt das?

Konkurrenz mit der freien Wirtschaft Werkstätten konkurrieren mit anderen um Aufträge aus der „freien Wirtschaft“. Sie arbeiten für Auto- und Möbelhersteller, Krankenhäuser oder Hotels. Sie haben deshalb ein großes Interesse daran, besonders leistungsfähige Beschäftigte in der Werkstatt zu halten. So kommt es, dass die Themen Qualifizierung und Unterstützung beim Übergang in den Regelarbeitsmarkt total vernachlässigt werden. Beschäftigte, die aus der Werkstatt rauswollen, berichten im Gegenteil davon, dass ihnen davon abgeraten wird. Argumente wie „die Welt da draußen ist zu hart“ oder „das hältst du nicht durch“ sind beliebt. So geben die Allermeisten mangels Unterstützung auf und bleiben.

Die Zahl dieser Einrichtungen ist so hoch wie nie. In den mittlerweile rund 700 Sozialbetrieben bundesweit, arbeiteten im Jahr 2013 dauerhaft 251 021 behinderte Menschen – fast 100 000 mehr als noch im Jahr 2000. Das bedeutet einen Anstieg um 63 Prozent.

„Geschützter Raum“? – Von wegen! Von den Werkstattträgern und ihren zahlreichen Unterstützer*innen hören wir oft, dass Menschen mit Behinderungen einen ,,geschützten Rahmen“ bräuchten. Aber wie sieht der Schutzraum wirklich aus?

Laut einer von der Bundesregierung in Auftrag gegebene Studie wird jede 2.-3. Frau Opfer von sexualisierter, seelischer und körperlicher Gewalt. Die Frauen haben keine Chance sich dagegen zu wehren. Häufig wissen sie nicht einmal, dass das, was ihnen angetan wird, nicht rechtens ist. Sie glauben es sei normal. Sie haben keine Ansprechpartner*innen, der Weg zur Polizei ist weit, meistens wird ihnen nicht geglaubt. All diese Gründe machen es nicht leichter, die Täterinnen und Täter aus den Einrichtungen zu verweisen. Der Schutzraum wird dadurch zur Falle.

Für Menschen mit Behinderung ist die UN-Behindertenrechtskonvention ein Menschenrecht. Sie muss daher endlich auch in Deutschland vollständig umgesetzt werden. Das Ziel ist eine inklusive Gesellschaft, die frei ist von Ausgrenzung, Barrieren, Vorurteilen und Diskriminierung. Dazu gehört auch, sich von diesen angeblichen „Schutzräumen“ zu verabschieden, weil sie keine sind.

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