Update
Neue Zürcher Zeitung vom 05.10.2013
Brasiliens Last der kolonialen Vergangenheit – Geburt der Freiheit aus der Gewalt
Luiz Ruffato, geboren 1961 und wohnhaft in São Paulo, gehört zu den führenden zeitgenössischen Schriftstellern Brasiliens. Er wird auf der Buchmesse in Frankfurt am Main die Eröffnungsrede halten.
23.07.2013
aktuelle Meldung: Gestern traf der Papst in Rio ein und der Moment wurde zu weiteren großen Demos genutzt. „Live-Übertragung von Demos ist Anstiftung zur Gewalt“ twitterte ein Polizist letzte Nacht in Rio. Journalisten wurden verhaftet, teils durch Polizeigewalt verletzt. DemonstrantInnen fordern laut die Freilassung der Journalisten und nach der Justiz.
23.07.2013
Brasilien steht wohl an einem Wendepunkt – nur wohin, das ist noch nicht abzusehen.
Die Situation
In Brasilien zu leben ist teuer. Wohnungen der Mittelklasse kosten in São Paulo soviel wie Wohnungen in Deutschland, nur dass die Bauten keine Heizungen haben, lediglich simple Schiebefenster und Außenwände von 6 cm. Die Preise steigen enorm, im Immobiliensektor und in allen anderen Bereichen. So sind Lebensmittel bis auf Fleisch, Reis und Bohnen teurer in Deutschland (250 g Butter kosten rund 1,50 EUR), Kleidung (aus China) ebenso wie im Inland produzierte Fahrzeuge. Und das ganze Land lebt auf Pump, fast alles, bis hin zu Einkäufen im Supermarkt oder Benzin kann mit der Kreditkarte bezahlt werden, bei einer späteren Fälligkeit. Andere Produkte können meist in drei oder zehn Raten (ohne „Zinsen“ – diese sind letztendlich schon im Verkaufspreis mit einkalkuliert) bezahlt werden. Bei Kontoüberziehungen und Krediten verdienen die Banken enorm, kassieren rund 200% Jahreszins. Vor wenigen Tagen wurden die Zinsen nochmals erhöht.
Die gesamte Wirtschaft ist auf Krediten aufgebaut und dadurch extrem labil. Bei einer Krise droht ein gewaltiger Absturz – und wen träfe ein solcher? Natürlich in erster Linie die Unterschicht sowie die neu gewachsene „Mittelschicht“, die aufgrund ihrer besseren Bildung so langsam das System durchschaut, das in erster Linie auf Abzocke und Spekulation beruht.
In den vergangenen Jahren wurde von Seiten der Regierung viel getan, um Menschen aus der Armut zu helfen. die Mittelschicht wuchs. Ihre Kinder genossen teilweise eine bessere Ausbildung. Die Vermögen dieser neuen Mittelschicht liegen jedoch deutlich unter der der alten Mittelschicht, die ihr Vermögen durch Spekulationen (insbesondere Immobilien) und anderen Finanzanlagen vergrößern konnte. Verdient ein studierter Lehrer nur rund 400 EUR pro Monat, ein Informatiker 700 EUR, höhere Angestellte (z.B. Geschäftsführer in unserem Sinne – in Brasilien ist man ganz schnell Geschäftsführer oder Abteilungsleiter) erhalten ein Vielfaches dessen. Und wer Verkäufer/in ist, erhält lediglich ein Basiseinkommen und zusätzlich eine Kommission, ist völlig abhängig vom Konsum. Die Reichtums-/Armutsschere ist also weiterhin weit offen und ein Aufstieg ist nur wenigen möglich. Eine große Mehrheit der Menschen hat weiterhin keinen Anteil an dem scheinbaren wirtschaftlichen „Aufschwung“. Scheinbar, weil der Staat (neben der Industrie natürlich) die Menschen zum Konsum animiert, auf Kredit. Mehr Einkommen und Konsum verhindern nicht, dass Brasiliens Aufsteiger in prekären Verhältnissen leben, ist auch die Meinung von Dawid Bartelt, Leiter der Böll-Stiftung in Rio de Janeiro in einem Interview der Zeit vom Juni 2013 (das Interview…).
Ist Brasilien ökonomisch im freien Fall?
Die Krise im Jahre 2008 hatte Brasilien gut überstanden, was wohl daran lag, dass die Banken nicht in den USA involviert waren, sondern im eigenen Land reinvestierten, schließlich verdienten sie hier mit ihren Wucherzinsen genug. Auch fand man riesige Ölfelder vor der brasilianischen Küste, bis auf Gas ist unabhängig von Rohstoffen, die man allesamt auch auf dem Weltmarkt exportiert. Man warb um Investitionen internationaler Konzerne, um einen Fuß im lateinamerikanischen Markt zu haben, förderte alles, was im Moment schnelles Geld brachte, spekulierte also letztendlich. Die große Chance, aus den Fehlern der europäischen und us-amerikanischen Politik zu lernen und einen anderen Weg zu gehen, wurde nicht wahrgenommen.
So wie die Proteste wie ein Blitz das Land trafen, so trifft nun ein paar Wochen nach Beginn der Demonstrationen anscheinend eine Wirtschaftskrise Brasilien mit enormer Wucht. Dies kommt mir persönlich so vor, aber auch andere bestätigen meine Eindrücke. So schlossen hier in Campinas in den vergangenen Wochen mehrere Autohändler ihre Läden, Honda hat die Produktion in einem Werk eingestellt. In Restaurants, in denen es zur Mittagszeit immer brechend voll war, haben heute etwa ein Viertel der Tische frei. Wenn die Krise wirklich eingetroffen ist, dann geschah dies ohne merkliche Vorzeichen und es besteht die große Gefahr eines richtigen Absturzes. Was genau, das kann ich mir im Moment nicht ausmalen, dazu ist es sicherlich noch zu früh.
Aber zu erwarten war eine Krise, irgendwann, schon alleine wegen der verrückten Immobilienspekulationen der letzten Jahre, die sich auch auf Mieten auswirkten (Preissteigerungen von 20% pro Jahr waren die Regel).
Was für ein Volk sind die Brasilianer/innen?
Die Brasilianer/innen sind duldsam, sie beschwerten sich schon lange über Vieles, insbesondere über die Korruption, doch fügten sie sich dem System, weil sie meinten, dass es sich nicht lohne, für etwas zu kämpfen, weil sich am Ende doch nichts ändern würde. Und wenn es nützt, bestechen häufig auch diejenigen, die vorher laut dagegen geschimpft haben.
Als im Jahre 2006 die kriminelle Vereinigung PCC aus den Gefängnissen heraus Gewalttaten in den Städten des Bundesstaates São Paulo organisierte, Busse in Brand gesteckt wurden, Uniformierte erschossen wurden, ging die Bevölkerung schnellstens nach Hause, Läden und Schulen bleiben geschlossen, Taxifahrer blieben zu Hause. Man verkrümelte sich, anstatt, wie die viel politischeren Argentinier/innen, auf die Straßen zu gehen und zu demonstrieren.
Protest durch Interessensgruppen gab es bisher immer wieder. Doch sind diese meist zersplittert, ihre Wirkung verpufft daher in der Regel. Das betrifft Umweltgruppen, die eher regional kämpfen, was teils der Dimensionen des Landes geschuldet ist (4500 km von Nord nach Süd, 4500 km von Ost nach West), aber auch durch marginale Unterschiede im Ziel oder durch Eigeninteressen verursacht. In São Paulo existieren zwei Gruppierungen, die für die indigenen Rechte und gegen den Bau des Wasserkraftwerks Belo Monte protestieren, sie reden nicht miteinander wegen eines persönlichen Streits zwischen zweier Personen.
Wie geht es weiter?
Die Politik ist ratlos, wurde von den Demonstrationen völlig überrascht und kann bis heute mit dem plötzlichen Aufstand der Bevölkerung nicht umgehen. Ganz schlecht kam die Reise der Präsidentin Dilma Rousseff von Brasília zum Wohnsitz Lulas in São Paulo an, wodurch sie ihre Ratlosigkeit und Schwäche zeigte und dass Lula immer noch die Fäden in der Hand hat.
Nun, über drei Wochen nach ihrer Rede an das Volk zeigt die Regierung ihre Ratlosigkeit, ja Verzweiflung. Es wird Vieles versprochen und wieder verworfen, weil es nicht ankommt, sondern als reines Marketing betrachtet wird. Auch die unteren Ebenen der Politik bekommen ihre Hilflosigkeit zu spüren. Als Präsidentin Rousseff kürzlich zu einer Konferenz in Brasília kam, um dort vor den meisten der 5570 Bürgermeister/innen des Landes zu sprechen, versprach sie . für die Verbesserung der medizinischen Versorgung umgerechnet 1 Milliarde Euro aber die Bürgermeister/innen hatten den doppelten Betrag erwartet und buhten sie aus. Dilma zahlt nun ihren Preis dafür, dass sie nie ein Mandat inne hatte, sondern immer nur in Kabinetten saß, bis Lula sie zu seiner Nachfolgerin machte und sie durch seine Popularität 2010 die Wahl gewann. Ihr fehlender Instinkt und die fehlende Dialogfähigkeit führen inzwischen zu Unmut in ihrer eigenen Partei, in der Spekulationen bezüglich Kandidaturen im kommenden Jahr aufkommen, bis hin zu Überlegungen, Lula könne wieder kandidieren.
Die Menschen erwarten ein Reformangebot des Staates, ein Umbau, der den Menschen Hoffnung auf Verbesserungen ihrer Lebenslage gibt. Kleine Versprechen, stets was heute von der Straße gefordert wird, morgen Versprechungen auf die nächsten Forderungen zu machen, das reicht nicht mehr. Ebenso wenig genügt es, sich Gesprächspartner von der Straße zu holen, denn es gibt keine legitimierten MeinungsführerInnen. Das Misstrauen gegenüber fast allen Politikern ist äußerst groß, Korruption ist Alltag, Politiker wechseln die Partei nach Vorteilslage.
Einer der ganz wenigen Politiker, dem das Volk vertraut, ist der Ex-Fußballstar Romário, der im Gegensatz zu Pelé und Ronaldo, den Boden unter den Füßen noch nicht verloren hat. Romário verleugnet jedenfalls seine Herkunft nicht: Von ganz Unten …
(Die Zeit: „Der einsame Rebell“ und „Romario greift FIFA an und unterstützt Demos sowie Die Welt vom 29.06.2013: Gemischte Bilanz der WM-Generalprobe)
Forderungen
Dass die Regierung dem Volk ein Angebot machen wird und zwar eines, das Brasilien dient und nicht den Machtinteressen einer Person oder einer Partei, das sehe ich nicht. Mit ihren Protesten, bei denen, wie es sich zeigte, es ja nun wirklich nicht um die Fahrpreiserhöhungen ging, sondern um viel mehr: Die Menschen haben genug von leeren Versprechungen, wollen endlich einen Wandel sehen. Sie wollen mehr Gerechtigkeit, mehr Demokratie. Dass diese Einsicht bei Dilma, ihrer Regierung oder einer der Oppositionsparteien ankommt, das sehe ich bisher nicht und glaube persönlich auch nicht, dass diese einmal einkehren wird.
Die Justiz
Der Justizminister und Präsident des Obersten Bundesgerichtshofes Joaquim Barbosa hat sich gleich zu Beginn der Demonstrationen auf deren Seite gestellt. Er ist der erste schwarze Justizminister Brasiliens, wurde dieses Jahr vom Times Magazine in die Liste der 100 einflussreichsten Menschen der Erde aufgenommen (mehr: https://en.wikipedia.org/wiki/Joaquim_Barbosa ). Barbosa studierte unter anderem in Frankreich, spricht neben portugiesisch fließend englisch, französisch, spanisch und deutsch. Barbosa genießt hohes Ansehen in der Bevölkerung. In Umfragen um in Frage kommende Präsidentschaftskandidat/innen liegt er derzeit vorn. Aber bisher ist nicht bekannt, ob der „Wunschkandidat“ vieler überhaupt kandidieren möchte.
Genau jetzt wird von den konservativen Medien kolportiert, dass Barbosa eine Regierungsmaschine zu einem privaten Besuch eines Fußballspiels zweckentfremdet habe. Dies bestreitet er. Tatsächlich sei er wie immer zu seiner Wohnung in Rio de Janeiro geflogen, wozu er häufig auch Linienflüge buche. Ich vermute dahinter eher eine Schmutzkampagne. Und selbst, wenn es stimmen würde, so ist er dennoch einer der wenigen Politiker/innen, die der Macht immer wieder die Stirn bieten, ihre eigene Position beibehalten. (Quelle: Blog in der Veja und andere Medien).
Änderung des Wahlrechts
Das brasilianische Wahlgericht plante bereits vor Beginn der großen Demonstrationen das Wahlrecht zu ändern. So steht auf der Agenda, das häufige Wechseln von Abgeordneten zwischen Parteien einzuschränken.
Man überlegt auch das Wahlsystem zu ändern, wobei ganz oben auf der Ideenliste steht, das deutsche Wahlrecht zu übernehmen. Ein weiteres Problem wird darin gesehen, dass Wahlkampfkostenerstattungen an die KandidatInnen erfolgen, und nicht an die Parteien, so dass es eine „persönliche Beziehung“ zwischen Spender/in und Kandidaten gibt, natürlich von Seiten der Spendenden in der Absicht, bei Erfolg eine Gegenleistung zu erhalten. Die brasilianische Anwaltskammer hat im April 2013 ein Manifest veröffentlicht, mit der Forderung nach einem Ende der privaten Finanzierung von Kandidaten/innen. (siehe Brasilnews.de: Brasilien: Programm gegen Privatfinanzierung im Wahlkampf).
Die Parteien sind durch diese Finanzierung insgesamt schwach, da sie selbst nicht die Wahlkämpfe durchführen und die Wahlkampfkostenerstattungen nicht über sie laufen. (siehe auch „Wahlkampf in Brasilien“ der Heinrich-Böll-Stiftung aus dem Jahr 2006, Kapitel „Das Wahlsystem: Steigbügelhalter der Konfusion und Korruption?“ auf Seite 1 als PDF-Datei).
Gegen ein Wahlsystem wie in Deutschland wird es sicherleich ebenfalls Proteste geben, vor Allem aus dem kirchlichen Bereich, denn deren KandidatInnen hätten kaum noch eine Chance gewählt zu werden.
Demonstrationen
Für den 07.09.2013, dem Tag der Unabhängigkeit wird zur größten Demo aller Zeiten aufgerufen. Traf ich vor zwei Jahren auf der Avenida Paulista in São Paulo gerade einmal 2000 Menschen, die gegen Korruption demonstrierten, so dürften es dieses Mal hunderttausend oder mehr werden.
Und wie Ex-Fußballstar Giovane Elber der Zeit erzählte, dass „endlich die Leute ihren Arsch bewegt und nicht nur vor Facebook und Twitter gesessen und irgendwas geschrieben haben“ und „es wird noch mehr Protest geben, es ist noch lange nicht zu Ende“, so sehe auch ich nicht, dass die Proteste so schnell abklingen werden, sondern sie noch während der Fußball-WM im kommenden Jahr stattfinden werden, und wer weiß, auch noch danach (Fußballstar Giovane Elber in der Zeit „Wir werden ein neues Brasilien erleben“).
Ich persönlich hoffe, dass es keiner Gewerkschaft, keiner Partei gelingt, sich vor die Demonstrationen zu stellen und diese für sich zu instrumentalisieren, es gibt reichlich Versuche. Manche sehen eine nicht unbegründete Gefahr von rechts, da die „Linke“ durch die Teilhabe an der Regierung und dem Versuch ihres Machterhalts derzeit paralysiert ist.
Der Riese ist erwacht, die Politik noch nicht. Hoffen wir!
wird fortgesetzt…
Nachklapp:
Leider berichten die Medien kaum, was momentan global passiert, ob Türkei, Myanmar, Südkorea, Chile, Brasilen, USA. Man muss schon die Augen offen halten und lange suchen, bis man Meldungen aus anderen Ländern findet.
Nachklapp 2:
Neue Zürcher Zeitung vom 05.10.2013
Brasiliens Last der kolonialen Vergangenheit – Geburt der Freiheit aus der Gewalt
Luiz Ruffato, geboren 1961 und wohnhaft in São Paulo, gehört zu den führenden zeitgenössischen Schriftstellern Brasiliens. Er wird auf der Buchmesse in Frankfurt am Main die Eröffnungsrede halten.
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