Persönlicher Erfahrungsbericht von Tino Shahin
Die Proteste habe ich persönlich erstmals am Donnerstag, den 27. Januar, wahrgenommen. Es war der „Tag der Sicherheitskräfte“, der allerdings von Regimegegnern genutzt wurde. Auch unmittelbar an meiner Wohnung im Stadtteil Dokki gab es einen Protestzug auf der Universitätsstraße. Bewohner, die die Sprechchöre hörten, gingen, wie ich auch, vor die Tür um zu sehen, was passiert. Demonstrationen habe ich in den vier Monaten bis dahin in Ägypten noch nicht erlebt.
Als ich am Freitag, den 28. Januar, aufwachte, gab es plötzlich keinen Internet-Zugang mehr. Auch Anrufe über mein Mobiltelefon waren nicht mehr möglich. Somit hatte ich in meiner Wohnung hauptsächlich über den Fernseher Zugang zu Informationen. Gemeinsam mit zwei Kommilitonen wollte ich in die Stadt. Die Metro hielt aber nicht mehr an der Station Sadat am Tahrir-Platz (Freiheitsplatz) – so sollten wohl weniger Demonstranten den zentralen Ort erreichen. Nach der Freitagspredigt fingen an diesem Tag die Straßenschlachten statt. Tausende versuchten zu Fuß zum Tahrir-Platz zu gelangen. Die Polizei, die so zahlreich wie noch nie erschien, setzte Wasserwerfer und Tränengas ein, um dies zu unterbinden. Auf der Nilbrücke zwischen Dokki und der Nilinsel Gezira kam es so zu heftigen Auseinandersetzungen. Demonstranten, die auf dem Weg ins Stadtzentrum waren und von der Polizei aufgehalten wurden, begannen Steine zu werfen. Polizeifahrzeuge fingen Feuer; auch kleinere Polizeiwachen wurden angegriffen. Überall gab es regimefeindliche Graffitis (z. B. „Verschwinde Mubarak“). In weiten Teilen der Stadt roch man das Tränengas. In der Nähe der Kämpfe sah ich viele Verletzte. Einige Demonstranten schlugen Steine aus dem Bürgersteig und trugen Bretter, Türen und Stangen in Richtung der Kämpfe. Viele Krankenwagen waren auf den Straßen, kamen aber nur langsam voran. Die ausgebrannten Polizeifahrzeuge waren für viele eine erfreuliche Attraktion. Am Abend sah ich an der Metrostation Mubarak die ersten Panzer. Das Ägyptische Museum (am Tahrir-Platz) wurde an diesem Tag geplündert. Es kamen Gerüchte auf, dass es die eigenen Sicherheitskräfte waren und dass Polizisten überall Schäden anrichten, um damit die Demonstranten zu beschuldigen. Man hörte auch mehrfach Schüsse in der Stadt. Am Abend waren fast keine Fahrzeuge mehr unterwegs, was in Kairo normalerweise nicht vorkommt.
Am Samstag, den 29. Januar, funktionierten die Mobiltelefone wieder, doch das Internet blieb weiterhin blockiert. In Dokki sah ich Demonstrantenzüge, die wütend Särge von offenbar getöteten Regimegegnern, mitführten. Man sah keine Polizisten mehr auf den Straßen. Wahrscheinlich fürchteten sich die Sicherheitskräfte mittlerweile vor der Bevölkerung. Zwischen Dokki und Sadat sah ich Zivilisten, die den Straßenverkehr regelten. Inzwischen gingen Tausende ungehindert zum Tahrir-Platz. Die riesigen Werbeplakate von McDonalds und Coca Cola, die das Bild des Platzes mitprägten, waren verschwunden. Das Militär hatte die Kontrolle übernommen. Am Tahrir-Platz und in der Umgebung waren viele Panzer zu sehen; vor allem vor Kirchen, Moscheen und vor dem Ägyptischen Museum. Die Bevölkerung feierte das Militär. Einige Bürger schenkten den Soldaten Blumen, Getränke und andere Kleinigkeiten. Viele beschrieben die Panzer mit regimefeindlichen Graffitis, wobei die Soldaten dies auf Grund der Massen am Tahrir-Platz überhaupt nicht wahrnahmen, es einfach duldeten oder nur vereinzelt darauf hinwiesen, dass dies unerwünscht sei. Einige Soldaten schüttelten die Hände der Demonstranten, die auch gerne auf die Panzer hinaufstiegen, sofern sie durften. Es gab sogar Offiziere, die sich in den Menschenmengen feiern ließen. Allerdings wiesen einige Demonstranten darauf hin, dass das Militär Mubarak später unterstützen könnte. In der Nähe des Ägyptischen Museums war ein Gebäude von Mubaraks Partei komplett ausgebrannt. Offenbar wurde es schon in der letzten Nacht angezündet. Außerdem waren hunderte Polizeiautos ausgebrannt. Am Nachmittag schlossen in Dokki, für offenbar unbestimmte Zeit, McDonalds und Pizza Hut. Die Mitarbeiter klebten teilweise die Werbung ab und bemalten die Fenster mit weißer Farbe, so dass man nicht hinein sehen konnte. Offenbar wurden Angriffe auf Einrichtungen aus dem Westen gefürchtet. Andere Ladenbesitzer verbarrikadierten ihre Geschäfte mit Mülltonnen, Leitern und Stangen. Die meisten Geschäfte (auch im Zentrum) hatten an diesem Tag ohnehin erst gar nicht geöffnet. Fenster wurden mit Kartonpappe geschützt. Einige Bankautomaten funktionierten nicht mehr. Weil es keine Polizei mehr gab, bewaffneten sich viele Zivilisten mit Stöcken, Rohren, Ketten, Messern, Macheten usw. Es gab Gerüchte über Plünderungen, so dass viele kleine Bürgerwehren entstanden, die gemeinsam Wache hielten. Es kam mir so vor, als überwogen an diesem Tag aber der Enthusiasmus und die Freude über den Sieg gegen die Polizei.
Am Sonntag, den 30. Januar wurde ab 16 Uhr eine Ausgangssperre verhängt. Bereits am frühen Morgen gab es Masseneinkäufe in den noch offenen Supermärkten. Einige Lebensmittel wie Brot und Jogurt waren schnell ausverkauft. Wasser und Zigaretten wurden in manchen Läden knapp. Es gingen immer weniger Bürger auf die Straße, allerdings gab es noch Demonstrationen auf den zentralen Plätzen. Das Militär versuchte Stärke zu demonstrieren, indem es Hubschrauber und Kampfflugzeuge tief über die Stadt fliegen ließ. Die Botschaften im Stadtteil Zamalek (Nilinsel Gezira) verstärkten offenbar ihre Sicherheitsvorkehrungen. Es gab Meldungen von Gefängnisausbrüchen, wobei viele sagten, dass die Häftlinge absichtlich freigelassen wurden. Manchmal waren Schüsse zu hören und die Stimmung war, meinem Empfinden nach, angespannter als am Vortag.
Am Montag, den 31. Januar, wurde die Ausgangssperre auf 14:00 bis 8:00 Uhr ausgedehnt. Am Morgen gab es lange Warteschlangen in den Supermärkten. Die meisten Geschäfte blieben wie in den Tagen zuvor geschlossen. Die Metro hielt immer noch nicht an der Station Sadat, so dass die vielen Demonstranten zu Fuß zum Tahrir-Platz unterwegs waren. An diesem Tag war die Polizei wieder zurück auf den Straßen, allerdings unternahm sie nichts mehr gegen die Proteste. Sie schützte nur noch Gebäude (wie Banken) und regelte den Verkehr. Das Militär regelte seit diesem Tag die Zugänge zum Tahrir-Platz und schützte immer noch das Ägyptische Museum. Inzwischen versuchten einige Soldaten, die Graffiti von den Panzern zu entfernen. Nach der Ausgangssperre fuhr die Metro überhaupt nicht mehr. Die muslimischen Demonstranten beteten gemeinsam auf den großen Plätzen. In der Ferne war Rauch zu sehen – später wurde mir gesagt, dass in einem anderen Stadtteil ein Gebäude abgebrannt sei. Die Bevölkerung begann damit, die Straßen aufzuräumen. Ich wurde an diesem Tag vom DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst) angerufen und gefragt, ob ich Interesse an einem Flug nach Deutschland hätte. Die ägyptische Opposition wollte am nächsten Tag Demonstrationen mit mehreren Millionen Menschen organisieren. Außerdem solle es spätestens bis zum nächsten Freitagsgebet einen Regimewechsel geben. Auch vor der US-Botschaft solle morgen gegen die US-Unterstützung von Mubarak demonstriert werden. In den Fernsehnachrichten war zu hören, dass die Botschaft künftig von US-Marines geschützt werden sollte. Nach der Ausgangssperre verbarrikadierten viele Bewohner ihre Straßen mit großen Steinen, Zaunstücken und großen Tonnen. Sie hielten wie üblich mit einfachen, teilweise selbst gebauten Waffen, Wache gegen Plünderer. Beeindruckend war, dass fortan Autos des Militärs von Zivilisten kontrolliert wurden – und nicht mehr umgekehrt.
Wie geplant demonstrierten am Dienstag, den 1. Februar, mehrere Millionen Menschen gegen das ägyptische Regime. Inzwischen funktionierte kein Bankautomat mehr. In den Supermärkten gab es wie immer lange Warteschlangen. Die Ausgangssperre begann ab 15 Uhr – danach fuhr die Metro nicht mehr. In der Nacht war die angekündigte Fernsehansprache Mubaraks, in der er mitteilte, dass er nicht mehr an der Wahl im September teilnehmen wolle. Darauf reagierten die meisten Bürger mit Ablehnung.
Am Mittwoch, den 2. Februar, war die Internet-Blockade zu Ende. Auch viele Bankautomaten funktionierten wieder. Auf den Straßen waren mehr Polizisten als am Vortag. Am Tahrir-Platz verharrten immer noch die Demonstranten, die dort teilweise Zelte aufgebaut hatten. Einige verkauften dort nun Tee und Süßigkeiten. Andere sammelten einfach nur Spenden (z. B. für das Militär), doch es war nicht immer deutlich für wen. Mittags gab es dann Züge von Pro-Mubarak-Demonstranten, die auf den Tahrir-Platz zugingen. Später eskalierte die Situation – es gab bürgerkriegsähnliche Zustände. In Dokki sprachen mich einige Ladenbesitzer darauf an, dass Mubarak gut sei. Über die Nachrichten erfuhr ich, dass es bei den Auseinandersetzungen Tote und hunderte Verletzte gab. Der DAAD fragte erneut, ob ich das Land verlassen wolle. Abends fiel in meiner Wohnung für einige Zeit der Strom aus, wobei ich nicht weiß, ob es eine politische Aktion oder das marode Stromnetz war.
Die Kämpfe am Tahrir-Platz gingen bis Donnerstag, den 3. Februar, weiter. An diesem Tag war die Ausgangssperre auf die Zeit zwischen 17:00 und 7:00 Uhr festgelegt. Insgesamt hatten wieder mehr Läden geöffnet. Schon am Morgen hörte ich in Dokki, wie einzelne Parolen geschrien wurden. Auf einigen Fahrzeugen (Motorroller und Eselkarren) sah ich Blätter mit der Aufschrift „Na’am Mubarak!“ („Ja Mubarak!). In der benachbarten Wäscherei war ein Portrait von Mubarak zu sehen und der DAAD fragte mich wieder nach meinem Befinden. Zum morgigen Freitagsgebet sind Großdemonstrationen geplant und heftige Auseinandersetzungen zu erwarten.
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