Zeiten des Krieges

auch erschienen in der Süddeutschen Zeitung

NATO und Bundeswehr sollten für Afghanistan ein festes Abzugsdatum ausverhandeln und im Rahmen eines Strategiewechsels einen verantwortlichen Abzugsplan formulieren. Die Alternative wäre die Fortsetzung eines eskalierenden und sinnlosen Krieges ins Unbestimmte.

Von Astrid Rothe-Beinlich, Sven Giegold und Robert Zion*

11. September 2008

In Afghanistan naht wieder einmal der Winter. Für viele der dort lebenden Menschen bedeutet dies nicht nur ein jahreszeitbedingtes Abflauen der offenen Kampfhandlungen, sondern auch die Rückkehr des Hungers. Auch im nun schon siebten Jahr der Intervention der internationalen Staatengemeinschaft scheint nichts wirklich definiert oder gar erreicht: Sinn und Zweck, die Ziele, der eigentliche Gegner, die Verbesserung der humanitären Lage. Zwischen Bundeswehrvertretern und Regierung ist man sich hierzulande noch nicht einmal darüber einig, ob dort überhaupt ein Krieg geführt wird, oder ob dies so genannt werden darf. Derweil werden fünf Millionen Menschen in diesem Winter in Afghanistan akut vom Hunger bedroht sein, so die Hilfsorganisation Oxfam. In der zentralafghanischen Provinz Daikundi gar ist die Situation Oxfam zufolge so schlimm wie seit zwei Jahrzehnten nicht mehr, schlimmer also als zu Zeiten des Bürgerkrieges und der Taliban-Herrschaft. Und dies, obwohl die Staatengemeinschaft 2,6 Milliarden Dollar aufwendet – monatlich. Mittel, mit denen mittlerweile im Krieg in einigen Regionen wieder mehr zerstört als aufgebaut wird. Auch die Absichtserklärung der Bundesregierung, für die Jahre 2008 bis 2010 etwa 420 Millionen Euro für den zivilen Aufbau bereitzustellen, würde kaum etwas an diesem krassen Missverhältnis ändern. In diesem Zeitraum verschlingt allein der Bundeswehreinsatz 1,5 Milliarden Euro.

Polizeiaufbau, Entwaffnung und wirtschaftliche Entwicklung müssen gesamtafghanisch als gescheitert bezeichnet werden. Ursprünglich sollte Afghanistan zu einer „freien Marktwirtschaft“ entwickelt werden, angetrieben durch den privaten Sektor. Doch hat eine dahinter stehende ökonomische Interessenpolitik in erster Linie nur wenige Privilegierte begünstigt. Über 90 Prozent aller Waren auf dem afghanischen Markt stammen folglich aus Importen. Landesweit ist von einer inoffiziellen Arbeitslosigkeit von ca. siebzig Prozent auszugehen. Statistisch gesehen muss jede AfghanIn von weniger als einem US-Dollar am Tag leben. Im „Failed State Index“ 2007 steht Afghanistan an achtschlechtester Position. Mohnanbau und Mohnhandel blühen. Das Land gilt als eines der korruptesten der Welt, die Zentralregierung in Kabul, zu achtzig Prozent vom Westen bezahlt, als schwach und wird weithin als US-Marionette wahrgenommen.

Eine auch nur ansatzweise identifizierbare Gesamtstrategie und einen realistischen Zeitrahmen gibt es nicht. Nicht nur zwischen den militärischen Gegnern, sondern auch unter den NATO-Partnern herrscht eine Art Naturrechtszustand: Soviel Recht als Macht. Während es bei Deutschen, Dänen, Holländern usw. insgesamt über siebzig Einsatzvorbehalte gibt, setzt sich faktisch die rücksichtslose taktische Kriegführung des US-Militärs durch: Luftkriegführung, schwerer Artilleriebeschuss, Kommandounternehmen, selbst bis Pakistan hinein. Nach Human Rights Watch hat sich die Zahl der durch Luftangriffe internationaler Truppen getöteten Zivilisten in den vergangenen zwei Jahren fast verdreifacht. Der Gegner, der nach Schätzungen der Expertengruppe Senlis Council 54 Prozent des Territoriums unter seiner Kontrolle hat, wird unterdessen medial als „Taliban“ bezeichnet. De facto aber befindet sich die NATO in einem Guerilla-Krieg mit heterogenen Widerstandsgruppen, deren Motive nicht einmal einheitlich sind: islamistische oder nationalistische Paschtunen, Drogenhändler, lokale Kommandeure, Warlords, Al-Qaida-Terroristen, ausländischen Jihadisten, religiöse Fundamentalisten, Antizentralisten und autonome Kräfte.

Dieser Krieg ist ein Krieg im Unbestimmten, die schlimmste Form Krieges überhaupt, weil diese Form keine Logik eines Endes beinhaltet, kein Sieg und keine Niederlage für keine Seite, weil er sich selbst nährt. Unter dem Widerstand gibt es mittlerweile auch Gruppen, die wegen der Folgen des Krieges, wegen des Hungers und die zivilen Toten, Krieg führen. Stattdessen sollte die Bundesrepublik nach dem Verursacherprinzip das Recht auf Asyl von Flüchtlingen aus Afghanistan endlich anerkennen. Der Katastrophentheoretiker René Thom sagte einmal, dass „die Grenze des Wahren nicht das Falsche ist, sondern das Sinnlose.” Und so trägt dieser Krieg inzwischen alle katastrophalen Insignien des Sinnlosen in sich und mit sich. Immer wieder versichern uns die Militärs, sie können nicht aufbauen und entwickeln, sie können dafür nur „Zeit kaufen“. Doch scheint hier niemand mehr Herr über die Zeit des Krieges zu sein, denn auch dessen Dauer liegt vollkommen im Unbestimmten. Ein sofortiger Abzug freilich, wäre ebenso verantwortungslos wie ein „Weiter so“.

Es gibt in Afghanistan für alle Beteiligten nur noch eine einzige Zeitform, eine einzige Möglichkeit, diesen Krieg zu beenden, wieder Subjekt des eigenen Handelns zu werden, die abgeschlossene Zukunft, das: „Die NATO-Truppen werden abgezogen worden sein“. Denn ab dem Punkt, ab dem ein ausverhandeltes Abzugsdatum formuliert, die Strategie gewechselt und die Ziele radikal revidiert und endlich klar definiert werden und somit ein verantwortbarer Disengagement-Prozess eingeleitet ist, ab diesem Punkt werden sich die Motivlagen aller Beteiligten grundlegend ändern, werden Verantwortungen, die der westlichen Staatengemeinschaft sowie auch die der AfghanInnen selbst für ihre eigene Zukunft, wieder virulent und wird die maßlos gewordene Verantwortungs- und Zeitlosigkeit dieses Krieges zurückgedrängt.

*Astrid Rothe-Beinlich ist im Bundesvorstand von Bündnis 90/Die Grünen und Landessprecherin in Thüringen;
Sven Giegold ist Wirtschaftswissenschaftler, Mitbegründer von Attac und bündnisgrünes Neumitglied;
Robert Zion ist Grünen-Politiker in NRW und Mitinitiator des Göttinger Sonderparteitages der Grünen zu Afghanistan 2007.


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