Die Geduld der Lemminge

Krieg im Kaukasus, kontinuierliche Eskalation in Afghanistan, eine pompöse Weltmacht-Show in Peking- anscheinend findet zur Zeit wieder verstärkt Weltgeschichte statt. Dort aber, wo die Bundesregierung glaubt beim neuen Weltmacht-Poker mitmischen zu müssen, am Hindukusch, nimmt sie zugleich ihre eigentliche Verantwortung für die Menschen in Afghanistan immer weniger wahr.

Von Robert Zion

Die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele sollte uns aus dem Westen ernsthaft beeindruckt haben. Was sich dort präsentiert hat, war eine Wahrheit der Globalisierung, der sich Nord-Amerikaner und Europäer möglichst bald stellen sollten, auch wenn wir es schon längst wissen müssten: Wir waren und sind nicht das Zentrum der Welt, nicht kulturell, nicht historisch und erst Recht nicht machtpolitisch. Diese ästhetische Vorschau auf eine kommende Multipolarität im Fernsehen muss uns aber nicht gleich zum Fernfürchten verleiten.

Weit beunruhigender als der weithin sichtbare und perfekt inszenierte Auftritt des neuen Global Player aus Fernasien, sind vielmehr die verzweifelten und zum Scheitern verurteilten post-imperialen Rückzugskämpfe der Weltmacht USA und ihrer aktuellen wie kommenden NATO-Verbündeten in Zentralasien. Gas- und ölbefeuerte Stellvertreterkriege, wie der im Kaukasus mit Russland mit eingeschlossen.

Und, nein, es geht nicht um Ossetier, Abchasier, Tibeter oder Taliban. Es geht um das Clan-Abstecken der Warlords aus unseren eigenen Hauptstädten in einer zusammenrückenden Welt, in der jeder neu geschürte oder weiter genährte Krieg zum Nahkampf-Handgemenge zwischen den Möchtegern-Alphanationen der neuen Weltordnung wird. Ebenso in Afghanistan. Das, was jüngst nicht ganz ungeschickt „Terror-Management“ genannt wurde, nämlich das untergründige Befeuern des „Widerstands“ in Afghanistan und Pakistan seitens der westlichen Geheimdienste, wird vielleicht einmal als letzte gescheiterte Strategie des US-Empire in die Geschichtsbücher eingehen. Eine Strategie, die offensichtlich zwei parallele Ziele verfolgt: Zum einen eine dauerhafte Legitimation für die militärische Anwesenheit in der Region zu liefern, zum anderen dafür, die Geduld beim Publikum westlicher Regierungen zu wecken, bis die vermeintlich „große humanitäre Aufgabe“ vollendet sei.

Nicht nur, dass sich die Lage in Afghanistan stetig verschlechtert, mehr Menschen sterben, die Truppen aufgestockt, die Mandate erweitert werden, zunehmend auch rücken Pakistan und der Iran ins Tätigkeitsfeld der letzten Unilateralisten, wird die Lage verzwickter und folglich unbeherrschbarer. Dies alles geschieht – wie immer, wenn wenige große Männer glauben (Welt-)Geschichte machen zu müssen und sich viele kleine Männer an der Heimatfront daran selbst erhöhen – auf dem Rücken der dort lebenden und sterbenden Menschen. Unsere Medien erlauben uns so gesehen ja nicht nur Fernsehen, sondern auch Ferntöten. Mit politischer Weitsicht allerdings, hat dies alles nicht mehr das Geringste zu tun. Weit angemessener und weitsichtiger wäre es, sich endlich einmal ernsthaft darum zu sorgen, dass die Vereinten Nationen darüber nicht endgültig zu einer letzten großen Comédie Humaine werden.

Als die Parteibasis der Grünen sich im September letzten Jahres für einen radikalen Strategiewechsel in Afghanistan aussprach und ein Ende des „Krieg gegen den Terror“ genannten Terror-Managements einforderte, tat sie dies aus einer explizit ausgesprochenen Verantwortung heraus, die die Bundesrepublik für die Menschen in Afghanistan mit übernommen hat. Und, ja, die Partei hat die „Bündnisverpflichtungen“ genannten Unterwerfungsgesten dafür hinten angestellt. An dieser Verantwortung hat sich seitdem nichts geändert, sehr wohl aber haben seitdem die Täuschungen und Enttäuschungen rapide zugenommen.

Wer glaubt den allen Ernstes noch, dass eine US-Regierung, die beim Irak so unverschämt gelogen hat, dass sich selbst deren Ex-Außenminister Colin Powell öffentlich dafür schämte, dass dieselbe Regierung in Afghanistan nur lautere Ziele verfolgt? So langsam wird der Afghanistan-Einsatz für die politisch Verantwortlichen hierzulande zum Prüfstein des Nachweises eigener politischer Grundfähigkeiten und eines Mindestmaßes an Redlichkeit. Hündchen an der Leine eines altgewordenen Hegemon, der zu seinem allerletzten Abendspaziergang in die Weltgeschichte aufgebrochen ist, sollten sie sich jedenfalls hüten zu werden.

Wie gesagt, dies alles entbindet uns nicht für eine einmal übernommene Verantwortung. Dafür aber müssen die Bundsregierung und die Europäer zunächst die Verantwortung für das, was sie in Afghanistan tun oder unterlassen, endlich selbst übernehmen. Wie oft hören wir von dem, was wir Deutschen an Forderungen nicht erfüllen können oder wollen und wie selten von dem, was denn eigentlich unsere konkreten Alternativen zum Falschen sein könnten. Geschieht hier nicht bald Wesentliches, wird nicht bald ein Friedens- und ernsthafter ziviler Aufbauprozess eingeleitet statt der Kriegsprozess weiter forciert, wird die Geduld, die dann verstärkt von uns eingefordert werden wird, zu einer Geduld der Lemminge.

Und auch die Grünen sollten nicht glauben, dass der geforderte Strategiewechsel wie von selbst aus dem Himmel der Geschichte fällt, oder gar darauf hoffen, dass er auf Anweisung aus Washington irgendwann schon erfolgt. Währenddessen nämlich wird für eine Wende zum Positiven in Afghanistan etwas immer knapper, mit dem zunehmend kalkuliert werden sollte: Zeit.

Robert Zion ist Grünen-Politiker aus NRW

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